Moderne Zeiten oder Spiegel der Vergangenheit

Editorial zu den Hörbüchern der 2. Staffel ("Father Browns Weisheit")

 

Die Kriminalerzählungen des Sammelbands "Father Browns Weisheit" erschienen erstmals 1914. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs gewähren sie Einblicke in eine Zeit, die sich im Spannungsfeld überkommener Strukturen und einer technikgläubigen Moderne bewegte. Während für den einen esoterische Teufelskulte das Grau des Alltags vertreiben sollen, schwört der andere bereits auf Maschinen, um unfehlbar die Wahrheit aufzudecken. Gleichzeitig ist es für einen Wissenschaftler immer noch en vogue, in Ehrensachen ein Duell dem Gerichtsverfahren vorzuziehen.

All dies wird vom Autor nicht auf britisches Herrschaftsgebiet begrenzt. G. K. Chesterton lässt seinen unscheinbaren Helden auch in den USA, Italien, Frankreich und selbst in Deutschland ermitteln. Die ganze Welt wird zur Bühne für die verzwickten Fälle, für deren Lösung es schon des besonderen Einfühlungsvermögens eines "Profilers" vom Kaliber des Father Brown bedarf. Natürlich sind die landestypisch ausgewählten Plätze und Personen subjektiv vom Autor eingefärbt und entsprechen gerne auch dem einen oder anderen Vorurteil ihrer Zeit. Schon Kurt Tucholsky lobte Chestertons treffende Typisierung französischer Mode bei den Bärten "die es zuwege bringt, echtes Haar wie künstliches erscheinen zu lassen"; aber kritisierte, "wie lustig ist es doch für unsereinen, wenn Fremde deutsche Namen erfinden! Nie wird das was."

Treffsicher entlarvt Chesterton schließlich mit seinem priesterlichen Helden den esoterischen Aberglauben (nicht nur) seiner Zeit als probates Mittel der Verschleierung ganz realer Verbrechen. Auch die sich objektiv gebärdende Presse zeigt im Spiegel einer weiteren Kriminalgeschichte ihr wahres Gesicht. Denn schon damals galt nur die Sensation berichtenswert: ein Fluch in Adelskreisen bringt Auflage, die simple Wahrheit dagegen kommt nicht ins Blatt. Die Segnungen der modernen Technik will Chesterton ebenfalls nicht als Lösung für die Probleme menschlichen Handelns und Strebens sehen. Seine Skepsis gegenüber einer kühlen mechanistischen Welt kommt beispielhaft in einer Geschichte zum Ausdruck, die in den USA angesiedelt ist, die sich gegenüber dem alten Europa als Vorkämpfer für den technologischen Fortschritt rühmen: hier wird von Father Brown ein Lügendetektor der Lüge überführt.

Natürlich gilt auch für diese Zusammenstellung: Mit der Neuübersetzung der Erzählungen durch Hanswilhelm Haefs Mitte der 1990er Jahre erhielten die LeserInnen erstmals einen unverfälschten Zugangzur literarischen Qualität der Sprache Chestertons und der schillernden Vielfalt seiner Figuren und Szenarien. Die Hörbücher dieser Reihe bieten erstmals Gelegenheit, diese Erzählungen ungekürzt und in der sprachlichen Brillanz der Neuübersetzung zu entdecken - rund 100 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung. Begleitet wird die Reihe im Internet von einer umfangreichen Website mit Anmerkungen des Übersetzers zu den einzelnen Erzählungen, editorischen Notizen zu Chestertons Leben und Werk sowie detaillierten Vergleichen zur Übersetzungsproblematik.

 

Autor: Claus Vester

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