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Jorge Luis Borges über G. K. Chesterton

 

Jorge Luis Borges erwähnt seine Vorlieb für Chesterton erstmals in seinem 1935 verfassten Vorwort zu seinen Übungsstücken in erzählender Prosa, als die er seine erste Sammlung von Essays und Erzählungen Niedertracht und Ewigkeit bezeichnete:

Sie verdanken, glaube ich, ihre Entstehung meiner erneuerten Lesebekanntschaft mit Stevenson und Chesterton [01].

Mehr oder minder ausführliche Reflexionen über Chesterton finden sich 1987 in seinen Gesprächen über Bücher mit Osvaldo Ferrari etwa in den Abschnitten "Über die Kriminalgeschichte" und - natürlich - "Über Chesterton" [02]. Darin erörtert und beklagt er, dass ihm seine Haltung als Katholik in England geschadet habe; es schade Schriftstellern immer, wenn man sie im Hinblick auf ihre Ansichten, vor allem die politischen, lese:

Die politischen Ansichten sind das Unwichtigste, was es überhaupt gibt, sie sind oberflächlich. Und in Chestertons Fall haben wir es mit einem Genie zu tun. Ihn auf einen Katholiken zu reduzieren ist eine Ungerechtigkeit. Mir fällt ein, dass Bernard Shaw sagte, die katholische Kirche, der Vatikan, sei ein Bötchen, das kentere, wenn Chesterton es betrete. Chesterton war ungeheuer dick ... Das ist nur ein Scherz, aber es stimmt schon, man hat vergessen, dass Chesterton ... Also er hat, wie wir alle wissen, Kriminalgeschichten geschrieben. Aber diese Geschichten sind darüber hinaus noch vieles mehr, da ja jede Geschichte von Chesterton so etwas wie ein Bild ist, ferner so etwas wie ein Theaterstück, wie eine Parabel. Dann sind da die Landschaften, die Gestalten treten auf wie Schauspieler, die auf die Bühne kommen, und sie sind immer sehr lebendig; sichtbar lebendig ... Möglicherweise verdanken diese Geschichten einen Teil ihrer Kraft weniger der logischen Erklärung als der falschen magischen Erklärung, die Chesterton gibt und die überdies mit der Stimmung, dem Ambiente des jeweiligen Hintergrunds übereinstimmt. So ist zum Beispiel die Geschichte ganz anders gestaltet, wenn sie in den schottischen Highlands spielt oder in einem Gartenvorort von London oder in einem Büro.

Aber heute hat man vergessen, dass Chesterton so viel anderes war. Zum Beispiel ist er ein hervorragender Dichter gewesen. In dem Gedicht "Ballade vom weißen Pferd", das sich auf die Kriege der Angelsachsen mit den Skandinaviern bezieht ... dieses Gedicht ist großartig, und es ist voller Metaphern, die Hugo begeistert hätten. Diese zum Beispiel ...: Der Protagonist ist ein Wikinger, der gierig nach Europa blickt, etwa so, als ob Europa eine Frucht wäre, die er kosten will, und er denkt an all diese außerordentlichen Dinge wie Marmor und Gold und sagt: "Womit soll man Marmor und Gold vergleichen?"

Ja, und dann sucht Chesterton unmögliche Vergleiche, aber eben deshalb sind sie so wirkungsvoll. Er sagt nämlich: "Marble like solid moonlight", das heißt: "Marmor wie festes Mondlicht". Oder: "Gold like frozen fire", also "Gold wie gefrorenes Feuer". Diese Vergleiche sind unmöglich, aber eben weil sie unmöglich für den Verstand sind, sind sie ... möglich für die Poesie, möglich für die Vorstellungskraft des Lesers, der diese unmöglichen Bilder akzeptiert und sie nicht für unmöglich hält, zumal die Vorstellung eines "gefrorenen Feuers" ja etwas sehr Hübsches ist; vor allem im Englischen, wo es diese f-Alliteration gibt: "Gold like a frozen fire", nicht wahr? Er überlegt, womit er Marmor und Gold vergleichen kann, was ja sehr alte Dinge sind, und er findet diese unmöglichen Metaphern - so findet er vielleicht die einzige Möglichkeit, diese Dinge zu erheben -, und gerade weil sie unmöglich sind, haben sie diese Kraft ...

((Aus dem Gedicht "Lepanto") erinnere ich mich an Sätze wie zum Beispiel: "Don Juan of Austria is shouting to the ships" - "Don Juan von Österreich ruft den Schiffen etwas zu" - den Schiffen, nicht den Mannschaften ... und dann, wenn er Allahs monströses Paradies beschreibt, sagt er, dass Gott - Allah - zwischen den Bäumen wandle, und er setzt hinzu "and is taller than the trees" - "und er ist größer als die Bäume", wodurch alles monströs wird, denn so stellt man sich das Paradies nicht vor, nicht wahr? Es muss dies ein heidnisches Paradies sein, das heißt, ein von Chesterton verfluchtes Paradies, nehme ich an ... Und Chesterton spitzt immer wieder alles auf diese Weise zu, auch an Stellen, wo man es gar nicht erwartet ... auch in der Geschichte Englands, die möglicherweise grundfalsch ist; aber das macht nichts, denn alles wird so schön gesagt, dass man wünscht, die Dinge wären so gewesen ... vom Imaginativen kommt er zum Unmöglichen, und er tut das so, dass der Leser ihm am Schluss immer noch so glaubt wie in den ersten Kapiteln. Wie Coleridge sagte, der poetische Traum ist eine willentliche oder zustimmende Suspendierung der Ungläubigkeit. Und wenn das Werk, um das es sich handelt, kraftvoll ist, fällt das Suspendieren überhaupt nicht schwer, weil das Werk sich durchsetzt ...

In der von Jorge Luis Borges zusammengestellten 30bändigen Bibliothek von Babel ist auch ein Band mit Erzählungen G. K. Chestertons erschienen, "Apollos Auge" [03]. Borges schrieb in seinem Vorwort dazu u. a.:

"Die Welt war sehr alt, mein Freund, als wir beide jung waren", schreibt Gilbert Keith Chesterton in der Widmung zu The Man who was Thursday. In der Tat gehört die Jugendzeit Chestertons, der 1874 geboren wurde, den Jahren der Verzweiflung und der Untergangsstimmung von Symbolismus und Décadence an. Vor dieser Verweigerung bewahrte ihn die große Stimme des Amerikaners Whitman und die des auf einer Insel im Pazifik sterbenden Stevenson, der "singt, wie ein Vogel im Regen singt". Die Behauptung klingt erstaunlich, dass ein so gütiger und umgänglicher Mensch wie G. K. Chesterton auch ein in sich gekehrter Mensch war, der das Grauen der Dinge spürte, aber sein Werk bezeugt es uns gegen seinen Willen. So vergleicht er die Gewächse eines Gartens mit angeketteten Tieren, den Marmor mit erstarrtem Mondlicht, das Gold mit zu Eis gewordenen Flammen und die Nacht mit einer Wolke, die größer ist als die Welt, ein Ungeheuer, das aus Augen besteht. Er hätte Kafka oder Poe sein können, aber er entschied sich tapfer für das Glück oder tat so, als ob er es gefunden hätte. Von der anglikanischen Kirche trat er zum Katholizismus über, der für ihn auf dem gesunden Menschenverstand beruht. Er argumentierte, dass das Sonderbare dieses Glaubens sich dem Sonderbaren des Universums anpasst, wie die merkwürdige Form eines Schlüssels sich der merkwürdigen Form eines Schlüssellochs anpasst ...

Die Literatur ist eine der Formen des Glücks; vielleicht hat kein Schriftsteller mir so viele glückliche Stunden bereitet wie Chesterton. Ich teile nicht seine Theologie, ebenso wenig wie die hinter der Divina Commedia, beide waren für die Schöpfung dieser Kunstwerke unerlässlich.

Auf das Problem des Unheimlichen bei G. K. Chesterton war Jorge Luis Borges bereits 1946 in seinem Essay "Über Oscar Wilde" [04] zu sprechen gekommen:

"Eine Nebenbemerkung. Der Name Oscar Wilde ist mit den Städten der Ebene verknüpft, sein Ruhm mit der Verurteilung und dem Zuchthaus. Trotzdem ... ist der Grundgeschmack seines Werkes das Glück. Dagegen ist das tapfere Werk Chestertons, dieses Prototyps physischer und moralischer Gesundheit, immer nahe daran, sich in einen Albtraum zu verwandeln [05]. Diabolisches und Horror lauern darin; es kann auf der harmlosesten Seite die Formen des Entsetzens annehmen. Chesterton ist ein Mann, der die Kindheit wiedergewinnen will; Wilde ein Mann, der sich trotz seines Umgangs mit dem Bösen und dem Unglück eine unverletzliche Unschuld bewahrt hat.

Wie Chesterton, wie Lang, wie Boswell zählt Wilde zu jenen Glücklichen, die der Zustimmung der Kritik entraten können und zuweilen sogar der Zustimmung des Lesers, da der Genuss, den uns der Umgang mit ihnen beschert, unwiderstehlich und dauerhaft ist.

Zum Abschluss dieser kurzen Übersicht über JLBs Ansichten zum Thema Chesterton erscheint es sinnvoll, mit einem letzten Zitat - wiederum aus dem Vorwort zu "Apollos Auge" [03] - den Bogen zurück zur Frage nach Chestertons Religiosität zu schlagen:

Der Katholizismus Chestertons schadete seinem Ruhm in England, denn die Leute blieben dabei, ihn zu einem bloßen katholischen Propagandisten abzustempeln. Unleugbar war er das, aber er war auch ein großer Prosaschriftsteller und Lyriker. Es ist bedeutsam, dass seine zwei hervorragenden Heldendichtungen "The Ballad of the White Horse" (1911) und "Lepanto" (1912) christliche Siege über die Heiden besingen. Die erste feiert eine Schlacht Alfreds des Großen gegen die Wikinger; in der zweiten treten der Sultan von Byzanz auf, Mohammed in seinem entsetzlichen Paradies, Philipp II., der Papst in seiner Geheimkapelle, Miguel de Cervantes, der das Schwert in die Scheide steckt und schon vom Don Quijote träumt, und der beständige Schatten Don Juans de Austria auf der Jagd nach Ruhm. Ungeachtet seiner Liebe zu England und Frankreich sah Chesterton den Mittelpunkt der Welt in Rom. In einem Brief lesen wir: "Es ist unsinnig, nach Rom zu reisen, wenn man nicht überzeugt ist, dass man dorthin zurückkehren wird."

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Autor: Hanswilhelm Haefs

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