Father-Brown

 

Biographische Skizze

 

Gilbert Keith Chesterton

Gilbert Keith Chesterton wurde am 29. Mai 1874 als Sohn des Häusermaklers Edward Chesterton und seiner Frau Marie, geb. Grosjean, im Londoner Stadtteil Kensington geboren. Seinen zweiten Vornamen verdankt er, im englischen Sprachraum nicht ungewöhnlich, einem Ortsnamen: Seine Mutter war in Keith im County Aberdeen geboren. Dem Vater, einem vielseitig begabten und belesenen Mann, verdankt der Sohn die Grundlagen seiner eigenen späteren Belesenheit und vor allem die zeichnerischen Talente. 1879 wird sein Bruder Cecil geboren. Mit ihm arbeitet Gilbert in vielen seiner literarischen Kampagnen und publizistischen Unternehmen eng zusammen und bleibt mit ihm in tiefer Freundschaft verbunden bis zu Cecils Tod 1918 in einem Lazarett in Frankreich.

1887 tritt Gilbert in die berühmte Saint Paul's School ein, in der er 1890 mit seinem späteren Schwager Lucian Oldersham und seinem besten Freund Clerihew Bentley (nachmals Herausgeber des "Daily Telegraph" und Verfasser des klassischen Krimis Trent's Last Case/Trents letzter Fall, 1910) den Junior Debating Club gründet. Hier entwickelt er in endlosen Debatten und Disputationen über jedes beliebige Thema seine rhetorischen Talente. 1892 gewinnt er den ersten Preis in einem Gedichtwettbewerb und verlässt die Schule in der vorletzten Klasse mit dem Zeugnisvermerk, dass er seinen Leistungen nach der obersten Klasse gleichzustellen sei. Bis 1895 lässt er sich an der Slade School als Zeichner und Maler ausbilden und hört zugleich an der Londoner Universität Vorlesungen in allen ihn interessierenden Fächern.

In diesen Studienjahren verspürt Chesterton lebhaft und intensiv die Anziehungskräfte des Bösen und des Verbrechens, die den elementaren Reiz der Fin-de-siècle-Dekadenz ausmachten. Später schreibt er dazu in seiner Autobiographie [01] u. a.:

Es ist wahrhaft bedrohlich, wie leicht und spontan ich mir die außerordentlichsten Verbrechen vorstellen konnte, obwohl ich nie auch nur das harmloseste beging ... Es gab einen Augenblick, in dem ich bis zu einem Zustand moralischer Anarchie gesunken war, von dem man in den Worten Oscar Wildes sagen könnte: "Atys mit dem blutigen Dolch in den Händen ist besser als ich" ... So sank ich tiefer und tiefer wie in einem blinden geistigen Selbstmord."

Da die Auseinandersetzungen mit diesen Anziehungskräften des Bösen den wesentlichen Inhalt seiner Detektiv- und vor allem seiner Father-Brown-Geschichten ausmachen und da sie für Chestertons Weg zum Katholizismus entscheidend waren, muss ihnen ein kurzer Exkurs gewidmet werden. Die schärfste Analyse jener geistigen Zustände hat wohl der Historiker Hugh Trevor-Roper in seiner Biographie des weiland berühmten Sinologen Sir Edmund Backhouse [04] "als soziales Phänomen, als Produkt von Zeit und Ort" geliefert:

Denn Backhouse war nicht nur Fälscher und Phantast: Er war auch ein sozialer Typus. Wie exzentrisch auch immer in bestimmten Richtungen, gehörte er doch zu einer bestimmten Kategorie und einer bestimmten Zeit. Ich habe ihn beschrieben als einen Ästheten, der den Materialismus, das Philistertum des viktorianischen Englands zurückwies und sich, gedanklich zumindest, in den geistig und spirituell leeren Elitismus, die soziale und sexuelle Nichtkonformität der 1890er flüchtete. Dieser Trivialästhetizismus, dieses Gefühl der Überlegenheit, dieser Hass auf den westlichen Materialismus blieb auch in Peking Zentralthema seines Lebens ... Seine favorisierten Geschichtsepochen sind Epochen der décadence: Perioden, in denen Restbestände politischen Autoritarismus, wie schwach auch immer, verantwortungslos eine funktionslose Eleganz, eine korrupte douceur de vivre beibehalten. Sein Geist bewegte sich am glücklichsten in den letzten Jahren des Valois-Frankreich, in der Zeit Heinrichs III. und seiner mignons; in den letzten und ziellosen Jahren des bourbonischen ancien régime unter Louis XV. und seinen Mätressen; in den letzten Jahren der Mandschu-Dynastie in Peking unter der Kaiserin-Witwe mit ihren Eunuchen und Intrigen ... So wurde der leere ästhetische Elitismus des späten 19. Jahrhunderts schrittweise in den brutalen, hohlen, glitzernden, sadistischen Elitismus verwandelt, der eines der konstitutiven Elemente des Faschismus ist. Das Phänomen ist in Frankreich durch die Entwicklung der Action Française bekannt. Es kann in Deutschland in Wagner-Kreisen beobachtet werden. In England ist es weniger offensichtlich, da dort der Ästhetizismus der 1890er sich erschöpfte und der Faschismus sich nie eine einheimische Basis schaffen konnte. Nur in der eitrigen Atmosphäre des verrottenden Mandschu-Hofes konnte eine fahle Erinnerung an die englische Dekadenz herumgeistern, bis die brutale, wenn auch pervertierte Maskulinität des faschistischen Führerprinzips sie verzaubern und in Besitz nehmen konnte. Vor diesem Hintergrund Muss auch, wie ich vermute, Backhouse' schließliche Konversion zum Katholizismus gesehen werden.

Zu diesem Hintergrund gehört, dass die protestantischen Varianten christlicher Amtskirche einschließlich der anglikanischen wohl nie so platt und geistig leer und chauvinistisch denaturiert waren wie gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, und dies vor der Folie der in Spiritualität und Erscheinungsform gerade durch das I. Vaticanum so kraftvoll erneuerten katholischen Kirche römischer Provenienz. Nicht zuletzt dieser Zusammenhang macht verständlicher, warum Menschen mit Identitätsproblemen in der glitzernden Hohlheit jenes Ästhetizismus des Fin de siècle, geistig lebende Menschen vor allem, die in sich den Zwang verspürten, ihre beschädigte oder verlorene Uridentität innerhalb der Gemeinschaft durch eine Kopf-Identität zu ersetzen, vom Erscheinungsbild des römischen Katholizismus besonders angezogen waren.

Der Typus, den Trevor-Roper am Beispiel von Sir Edmund analysierte, ist damals in der englischen Gesellschaft vielfältig anzutreffen. Nur wenige Beispiele: Da waren der Literat Oscar Wilde und der Maler Aubrey Beardsley, da waren die Hochstapler André Raffalovich und sein Freund John Gray, da war der Maler und Literat und Photograph und Hochstapler Frederick Rolfe, selbsternannter Baron Corvo. Wer ihrem Leben und ihrem (oftmals durchaus bedeutenden) Werk nachspürt, wird immer wieder ähnliche Grundmuster feststellen können, wie sie Trevor-Roper so scharf umrissen hat. Man betrachte als bekannteste Muster z. B. Beardsleys graphische Arbeiten und lese als Kommentar dazu Oscar Wildes berühmten Roman The Picture of Dorian Gray von 1890/91 (Das Bildnis des Dorian Gray). Oder beschäftige sich mit Leben und Werk des so romantisch umwitterten Lawrence of Arabia als einer späten Orchidee an diesem verrotteten Stamm.

Die französische Szene sei kurz angedeutet mit Charles Baudelaire und seinen Les fleurs du mal von 1857 (Die Blumen des Bösen), Isidore Luden Ducasse alias Comte de Lautréamont und seinen Les Chants de Maldoror von 1868/69 (Die Gesänge des Maldoror) und Joris-Karl Huysmans' Romanen A rebours 1884 (Wider den Strich) und Là-bas 1891 (Tief unten; besser vielleicht In der Tiefe). Von Rimbaud, der mit 19 das Dichten aufgab und fortan als Waffenhändler u. a. für den Negus in einem Bordell in Dschibuti lebte, ganz zu schweigen. Auch hier ist eines Spätlings zu gedenken, des Ethnologen Victor Segalen, der - wie Backhouse proklamierter Schüler von Verlaine und Huysmans - um die Jahrhundertwende in Beijing den jungen Maurice Roy kennenlernte, ein Sprachgenie und ein Hochstapler im Geiste Sir Edmunds (der vielleicht Sir Edmund gar erst zu seinen Hochstapeleien angeregt hat), dem Segalen in dem 1912 geschriebenen Buch René Leys ein Denkmal setzte - und das er nie veröffentlichte (es erschien postum 1922), vielleicht weil er seinen eigenen Interpretationen (im Sinne realer Wirklichkeit) doch nicht so sehr traute, wie das Buch glauben macht.

Die deutsche Landschaft kann hier außer Acht bleiben, da sie - von Nietzsche und Wagner abgesehen - auf Chesterton wohl keinerlei Einfluss ausübte.

Am Vorabend seines 21. Geburtstags erhält G. K. Chesterton 1895 seinen ersten journalistischen Auftrag: einen Aufsatz für "The Academy" zu schreiben. Ob er ihn je verfasst hat, ob er je gedruckt wurde, ist bis heute nicht nachzuweisen. Kurz danach erscheinen als erste nachweisliche Arbeiten Kunstrezensionen in "The Bookmam", wenig später erste Gedichte in "The Speaker". Diese Veröffentlichungen öffnen ihm Türen zu Verlagen. Und noch vor Jahresende verlässt er die Slade School und wird Lektor in einem spiritistisch orientierten Verlag, den er aber bereits kurz danach 1896 ebenfalls wieder verlässt, um seine erste längere Lektorenstelle im Verlag Fisher Owen anzutreten. Im gleichen Jahr begegnet er der fünf Jahre älteren Frances Blogg, der Tochter eines verstorbenen Juweliers, mit der er sich verlobt, die er aber aus finanziellen Gründen erst 1901 heiraten kann. Sie finden ein Haus in Battersea, das für lange Jahre eines der Zentren des Londoner Literaturlebens werden wird. Im gleichen Jahr beginnt die Bekanntschaft mit dem Karikaturisten und Essayisten Max Beerbohm, beginnen die lebenslange Freundschaft mit George Bernard Shaw und ihre ebenso lebenslängliche Auseinandersetzung in den Medien, deren Ton durchaus nicht immer die private Freundschaft beider verrät.

1900 erschienen seine ersten Bücher: Greybeards at Play, Literature and Art for old Gentleman, Rhymes and Sketches (R. Brimley Johnson, London) und The Wild Knight, and other Poems (Grant Richards, London), denen 1901 sein berühmtes The Defendant folgte (R. Brimley Johnson, London; 1917 auch deutsch).

Inzwischen stehen ihm praktisch alle Medien der Zeit offen: Zeitungen und Zeitschriften bringen seine Arbeiten, Verlage reißen sich um seine Bücher, der glänzende Rhetoriker wird einer der beliebtesten Vortragsgäste in der angelsächsischen Welt. 1904 lernt er während einer solchen Vortragsreise im Haus eines Bekannten in Yorkshire den katholischen Priester John O'Connor kennen - wie der Name verrät: ein Ire. Im 16. Kapitel seiner 1936 erschienenen Autobiographie wird er später ausführlich über diese erste Begegnung berichten. Zunächst habe ihn beeindruckt, mit welchem Takt und Humor sich der irische katholische Priester seinen anerkannten Platz in der protestantischen Yorkshire-Gesellschaft errungen habe. Am nächsten Morgen habe er mit ihm eine lange Wanderung unternommen und dabei von einem literarischen Projekt voller sozialer Probleme gesprochen, und da habe der Priester begonnen, ihm seine nicht eben geringen Kenntnisse des Lasters und der Verderbtheit in der ruhigsten und gelassensten Form zu korrigieren, dergestalt nämlich, dass er aus seinen eigenen Kenntnissen Geschichten erzählte, die weit über alle Erfahrungen Chestertons hinausgingen (oder tief unter sie hin abtauchten), und dann Schlussfolgerungen und Interpretationen vortrug, die Chestertons eigene Ansichten wiederum weit überflügelten:

Es war eine merkwürdige Erfahrung festzustellen, dass dieser ruhige und angenehme Zölibatär diese Abgründe weit tiefer erforscht hatte als ich. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass die Welt solche Schrecken bergen könne. Wäre er ein berufsmäßiger Schriftsteller gewesen, der in seinen Romanen solchen Schmutz in allen Buchläden massenhaft verbreitet hätte, damit Knaben und kleine Kinder danach griffen, wäre er selbstverständlich der große schöpferische Künstler und ein Herold der Aufklärung gewesen. Da er diesen Schmutz nur widerstrebend und in einem privaten Gespräch aus einer praktischen Notwendigkeit heraus behandelte, war er natürlich ein typischer Jesuit, der giftige Geheimnisse in mein Ohr flüsterte.

Die Geschichte hat eine Pointe, die so typisch chestertonsch ist, dass ich niemandem übel nähme, glaubte er sie nur in einem literarischen Sinne. Und doch besteht kein Anlass, an ihrer wirklichen Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Nachdem man von der Wanderung zurück war, geriet O'Connor unter anderem in eine lange Diskussion mit zwei Studenten,

... keine engstirnigen Athleten, sondern an verschiedenen Sportarten und oberflächlich an verschiedenen Künsten interessiert.

Wie man sieht, stand G. K. Chesterton britischen Bildungsidealen durchaus nicht unkritisch gegenüber. Und dann:

Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der mit größerer Leichtigkeit von einem Gegenstand zum anderen wechseln konnte oder der über einen unerwarteteren Wissensschatz verfügte und oft sogar rein technische Kenntnisse über alles Mögliche besaß.

Nachdem Father O'Connor den Raum verlassen hatte, besprachen die Herren Studenten ihren Gesprächspartner, bewunderten seine vielfältigen Kenntnisse zu Palästina und barocker Orgelbaukunst, dann aber stellte einer von ihnen fest:

Ich glaube nicht, dass seine Art zu leben die richtige ist. Es ist ja ganz schön, religiöse Musik und so weiter zu lieben, wenn man völlig in einer Art Kloster eingesperrt ist und über das wirklich Schlechte in der Welt nichts weiß. Aber ich glaube nicht, dass das das wahre Ideal ist. Ich glaube an einen Kerl, der sich den Wind um die Nase wehen lässt und dem Schlechten in der Welt ins Auge sieht und eine Ahnung von der Gefahr und all dem hat. Es ist etwas Schönes, unschuldig und unwissend zu sein, aber ich halte es für wesentlich besser, vor Wissen nicht zurückzuschrecken.

Die liebenswürdige Leserin, der geneigte Leser wird hier unschwer das Vorbild der Father-Brown-Geschichten erkennen, der Geschichten von einem Priester, den die seelsorgerische Arbeit in der Praxis wie im Beichtstuhl mit mehr Üblem bekannt macht als selbst den normalen Polizisten. Und der - wenn er denn ein guter Seelsorger ist - gezwungen ist, diese Realitäten als Möglichkeiten menschlicher Existenz (wo nicht menschlichen Lebens) zu "verinnerlichen", will er wirklicher Seelsorger sein. In Chestertons Worten:

Für mich, der ich fast noch schauderte vor den erschreckenden Tatsachen, vor denen mich der Priester gewarnt hatte, war dieser Kommentar von so ungeheuerlicher und vernichtender Ironie, dass ich im Salon fast in ein lautes harsches Gelächter ausgebrochen wäre. Denn ich wusste nur zu gut: Gemessen an dem ganzen, sehr handfesten Teufelswerk, das der Priester kannte und mit dem er sein Leben lang rang, wussten diese beiden Herren aus Cambridge, zum Glück für sie selbst, vom wirklich Bösen ungefähr so viel wie zwei Babys im selben Kinderwagen.

Vor dem Hintergrund dieser Zitate lese man noch einmal die allererste Father-Brown-Geschichte, die vom "blauen Kreuz", und darin insbesondere die Gespräche auf der Heide, in denen Father Brown sich erleichtert zeigt, dass der Verbrecher Flambeau bestimmte Gangstertricks nicht kennt und also "noch nicht allzu tief gesunken sein" kann. 1909 erscheint in einer Zeitschrift Das blaue Kreuz als erste der Father-Brown-Geschichten.

Und anzumerken ist an dieser Stelle, dass eine Art von Verbrechen in allen Texten Chestertons nicht auftaucht: Sexualverbrechen; sei es in der direkten Form, sei es in der Form, dass Father Brown bei der Auflösung anderer Übeltaten Sexuelles, besser: sexuelle Verklemmtheiten, nicht als Wurzel des Übels diagnostizierte. Hierüber ließe sich lange nachdenken. Ist das eine Nachwirkung der offiziellen viktorianischen Prüderie? Ist das die Folge der großzügigen Toleranz des weitherzigen Chesterton, der Angst vor dieser Büchse der Pandora hatte? Ist das ein Reflex aufklärerischer Ideale Chestertons, dem ahnend deutlich war, dass die Einführung sexualpsychologischer Argumentationen seine Predigt der Vernunft in den Augen der Zeitgenossen noch weniger erträglich machen würde? Scheu schließlich davor, dem Erbübel christlicher Kirchenlehre, das Böse manifestiere sich vor allem im Geschlechtlichen, entgegentreten zu müssen, wenn dieses Thema angeschnitten würde?

Chestertons Ruhm und Bekanntheit wuchsen ständig. Das veranlasste 1908 seinen Bruder Cecil, anonym eine erste Studie über ihn zu veröffentlichen: "G. K. Chesterton: A Criticism", die heftige Kontroversen in der Öffentlichkeit auslöste. 1909 engagiert sich G. K. Chesterton zum letzten Male parteipolitisch, für die Liberalen; seine politischen Überzeugungen und Veröffentlichungen richten sich zunehmend gegen die Verfilzung von Kapital und Regierung in einer repräsentativen Demokratie, wie er das bei den Liberalen besonders ausgeprägt erkennt. Bald danach ziehen die Chestertons aufs Land, nach Overroads, Beaconsfield, in der Nähe von West Wycombe. Dort sollte Chesterton für den Rest seines Lebens bleiben - abgesehen von ungezählten Vortragsreisen und noch weniger zählbaren Aufenthalten in Londoner Redaktionsräumen. 1910 verlässt G. K. Chesterton aus Erbitterung gegen die liberale Regierungspolitik die "Daily News", in denen er seit 1901 pro Woche mindestens einen Aufsatz geschrieben hat, und wechselt zum "Daily Herold" über. 1911 tritt er aus der liberalen Partei aus und gründet zusammen mit Bruder Cecil und Hilaire Belloc die Zeitschrift "The Eye Witness", die die Regierung und ihre Korruption heftig attackiert.

Die schärfsten Angriffe gegen die Regierung veröffentlicht das Blatt 1912 im Rahmen des sogenannten Marconi-Skandals: Bestechungen und Spekulationen aus Insider-Wissen bei der Vergabe des Staatsvertrags über die Errichtung eines Telefonnetzes im gesamten Commonwealth; in diese Korruptionsaffäre sind einerseits die führenden Köpfe der Filiale des Marconi-Konzerns in Großbritannien und andererseits Kabinettsmitglieder wie Lloyd George und Herbert Samuel verwickelt; da die Geschäftsführung der Marconi-Filiale jüdisch ist, mischt "The Eye Witness" in seine Polemik äußerst unschöne antisemitische Töne, denen G. K. Chesterton nicht widersprochen hat. Der Skandal endet 1913 mit einem Freispruch für alle Beteiligten durch Parlamentsbeschluss, also durch einen juristischen Sieg und eine moralische Niederlage der Regierung. Gleichzeitig wird Cecil Chesterton wegen Verleumdung belangt und bestraft, doch scheinen Prozessverlauf und Strafmaß den Brüdern Chesterton indirekt doch recht zu geben. Chesterton sollte später den Marconi-Skandal immer wieder als einen Wendepunkt in der britischen Geschichte bezeichnen.

1912 erscheint der erste von 10 satirischen Romanen seines Freundes Hilaire Belloc, The Green Overcoat, illustriert von G. K. Chesterton. Die weiteren 9 "Chesterbellocs", wie George Bernard Shaw sie nannte, erscheinen in den Jahren 1922 bis 1936.

Den Kriegsausbruch 1914 hatte Chesterton in seiner Zeitschrift wiederholt vorhergesagt. Noch vor Kriegsausbruch erscheint 1914 der zweite Band der Father-Brown-Geschichten The Wisdom of Father Brown (Father Browns Weisheit). Auf die Kriegserklärung und eine Proklamation deutscher Professoren antwortet er mit einem Pamphlet The Barbarism of Berlin. Kurz danach bricht er in der Folge eines Herzkollapses völlig zusammen und kann nach langen Phasen der Bewusstlosigkeit und der geistigen Verwirrung erst im Juni 1915 seine Arbeit wieder aufnehmen. Als 1916 der Aufstand Irlands losbricht, stürzt dies Chesterton in eine tiefe Depression; und mit Trauer sieht er im September seinen Bruder Cecil als Kriegsfreiwilligen nach Frankreich gehen, wo dieser am 6. Dezember 1918 in einem Lazarett sterben wird.

1918 beginnt mit einem Besuch in Irland die Serie seiner großen Auslandsreisen, die sich in Reisebüchern niederschlagen. 1919 besucht er mit seiner Frau Palästina, Malta und Italien. 1920 folgt die erste Vortragsreise durch die USA. 1922 tritt er nach langen Jahren der Annäherung zur katholischen Kirche über: Die Übertrittsmesse (die man in gewisser Weise mit der Firmung vergleichen könnte) liest in Beaconsfield sein irischer Freund Father O'Connor.

1924 entschließt Chesterton sich, mit Rücksicht auf das Lebenswerk seines Bruders Cecil die eingestellte Zeitschrift "The Eye Witness" unter dem neuen Titel "G. K.'s Weekly" neu herauszugeben; sie erscheint bis zu seinem Tode 1936.

1926 erreicht Chestertons politisches Wirken seinen Höhepunkt mit der Gründung der "Distributist League", einer politischen Gesellschaft zur Durchsetzung des Rechtes auf wirtschaftliche Unabhängigkeit und Eigentum: Das Ziel ist die Neuverteilung von Grund und Boden und des Besitzes der Produktionsmittel aus christlichem Geist. Während der ersten beiden Jahre ihres Bestehens hat die Liga erheblichen Zulauf und damit auch einen nicht unbedeutenden politischen Einfluss. Im Sommer desselben Jahres wird Dorothy Collins Sekretärin G. K. Chesterton und Mitglied des kinderlosen Haushaltes, in dem sie bald die Rolle der Tochter wie der Vertrauten beider Eheleute übernimmt. Nach Chestertons Tod wird sie noch eine Reihe seiner Essays herausgeben und sich um seinen literarischen Nachlass kümmern. Kurz vor der Engagierung von Dorothy Collins ist der dritte Band der Father-Brown-Geschichten erschienen: The Incredulity of Father Brown (Father Browns Ungläubigkeit).

1927 erscheint als vierter Band der Reihe The Secret of Father Brown (Father Browns Geheimnis). 1929 kommt nach einem Besuch von Rom die erste Sammlung aller bisher erschienenen Geschichten unter dem Titel Father Brown's Stories heraus. 1930 beginnt Chesterton mit Rundfunkvorträgen in der BBC. Ende des Jahres fährt er zu seinem zweiten längeren Aufenthalt in die USA. 1932 nimmt er am Eucharistischen Kongress in Dublin teil. 1933 stirbt seine Mutter. Seine Gesundheit beginnt sich irreparabel zu verschlechtern. 1934 wird er Ehrenmitglied des Londoner Athenaeum Club und erhält den Titel eines Ritters des päpstlichen Sankt-Georgs-Ordens verliehen. Nach einer schweren Gelbsuchterkrankung reist er nach Rom und weiter nach Sizilien, muss dort aber infolge einer Nervenentzündung die Reise abbrechen und nach Hause zurückkehren.

1935 bereist er Frankreich und Italien. Auf dieser Reise sieht er seine Befürchtungen, die er seit Mitte der 20er Jahre immer wieder formuliert hat, nämlich dass der Faschismus die Macht in ganz Europa übernehmen könne, dermaßen verstärkt, dass er wiederholt in Depressionen verfällt. Dennoch rafft er sich immer wieder auf, um gegen den Pazifismus, gegen die Appeasement-Politik der britischen Regierung ins Feld zu ziehen. Es erscheint der fünfte und letzte Band der Father-Brown-Geschichten: The Scandal of Father Brown (Father Browns Skandal).

1936 beendet er seine Autobiographie, reist nach Lourdes und Lisieux und stirbt am 14. Juni an Herzversagen. Aus seinem Nachlass werden noch bis in die 50er Jahre Essay-Bände herausgegeben; aber viele seiner Arbeiten sind bis heute nicht wieder veröffentlicht oder gar in der Form einer Gesamtausgabe zugänglich gemacht worden. Selbst eine komplette Bibliographie wurde bisher nicht erstellt.

» LiteraturTipps

 

Autor: Hanswilhelm Haefs

Eine Vervielfältigung oder Verwendung der Texte und Materialien dieser Website (oder von Teilen daraus) in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen und deren Veröffentlichung (auch im Internet) ist nur nach vorheriger Genehmigung gestattet.